Endlich handeln: 70 Jahre Grundgesetz – 100 Jahre missachtetes Ablösungsgebot

Musterantrag des bundesweiten Netzwerkes säkularer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten       

Als Entwurf vorgelegt von Rolf Schwanitz und vom Bundessprecher*innenkreis im Februar beschlossen.

Vor 70 Jahren, am 23. Mai 1949, wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verkündet. Das ist ein Anlass für Dankbarkeit und Freude. Das Grundgesetz hat sich seitdem zu einer stabilen und verlässlichen Grundlage für die Demokratie in Deutschland entwickelt. Die Garantie der Freiheit und der Würde des Menschen sowie der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger sind der Kern des Grundgesetzes. Es war und ist damit die freiheitlichste und die erfolgreichste Verfassung in der deutschen Geschichte. Das Grundgesetz war bis heute auch Sehnsuchts- und Orientierungspunkt über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinaus. Vor fast drei Jahrzehnten konnten die Deutschen dann nach der erfolgreichen Friedlichen Revolution in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Das Grundgesetz gilt seit dieser Zeit für das gesamte Deutsche Volk.

Vor 100 Jahren, am 11. August 1919, wurde die Weimarer Reichsverfassung verkündet. Aus ihr wurden 1949 die Bestimmungen zu Religion sowie zu Religions- und Weltanschaungsgemeinschaften (Artikel 136 bis 139 sowie Artikel 141 WRV) als Bestandteil in das Grundgesetz übernommen. Sie besitzen damit Verfassungsrang.

Diese grundgesetzlichen Regelungen verbieten eine Staatskirche in Deutschland – sie wurde abgeschafft. Unser Grundgesetz garantiert jedem Bürger die freie Wahl seiner Weltanschauung und der Staat selbst ist verfassungsrechtlich zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet. Beides ist aus gutem Grund untrennbar miteinander verbunden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung erklärt, der demokratische Staat müsse die Heimstatt aller Bürger sein unabhängig von deren Weltanschauung oder Glauben. Der Staat muss für jeden Bürger die freie Wahl der Weltanschauung sicherstellen. Das kann er aber nur, wenn er selbst weltanschaulich neutral bleibt und dem Bürger weder direkt noch durch die Hintertür irgendeine Weltanschauung oder Religion nahelegt. Die weltanschauliche Neutralität des Staates ist deshalb eine zentrale Bedingung und Voraussetzung für die Religions- und Weltanschauungsfreiheit überhaupt. Wird diese Neutralität verletzt, wird auch ein wichtiges Grundrecht gefährdet und die Demokratie damit insgesamt getroffen.

Zu den Regelungen mit Verfassungsrang gehört auch das Ablösungsgebot überkommener Staatsleistungen nach Artikel 138 Absatz 1 WRV. Der Artikel 138 WRV hat folgenden Wortlaut:

Art 138 WRV

(1) Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.

(2) Das Eigentum und andere Rechte der Religionsgesellschaften und religiösen Vereine an ihren für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen werden gewährleistet.

Seit einhundert Jahren besteht in Deutschland durch Artikel 138 Absatz 1 WRV ein Verfassungsgebot zur Ablösung der besonderen Staatsleistungen, die noch immer wegen der Säkularisationen zu Napoleons Zeiten von den Ländern an die beiden christlichen Großkirchen gezahlt werden. Diese besonderen Staatsleistungen gehen ausschließlich in die Kirchenhaushalte der katholischen und der evangelischen Kirche ein und werden insbesondere als Zuschüsse für die Besoldung von Geistlichen verwendet. Das sind im Jahr rund eine halbe Milliarde Euro. Dieses verfassungsrechtliche Ablösungsgebot wird systematisch ignoriert – von der Politik ebenso, wie von den Kirchen selbst. Außerdem gewährt der Staat den Kirchen noch immer viele überkommene und neue Privilegien bei Steuern und Abgaben, im Arbeitsrecht, beim Diskriminierungsschutz, bei der Kirchensteuer, im Medienrecht und in anderen Bereichen, die für eine freie und plurale Demokratie unzeitgemäß sind und aufgehoben werden sollten. Letzteres ist sicher weiter Gegenstand der politischen Diskussion. Das Ablösungsgebot der Staatsleistungen ist aber ein klarer verfassungsrechtlicher Auftrag, der nicht weiter missachtet werden darf.

Wer durch dieses Ablösungsgebot in die Pflicht genommen wird, ist in Absatz 1 von Artikel 138 WRV klar und unmissverständlich geregelt. Der Bund – im Jahr 1919 sprach man noch vom Reich – hat die Pflicht, die Grundsätze für die Ablösung der besonderen Staatsleistungen an die Kirchen aufzustellen. Er verwirklicht das im Allgemeinen durch ein Gesetz, durch das diese Grundsätze für die Länder verbindlich normiert werden. Die Länder haben daneben eine eigene verfassungsrechtliche Pflicht, ihre jeweiligen Landeszahlungen an die Kirchen durch Ländergesetze abzulösen. Hat der Bund verbindliche Grundsätze für die Ablösung erlassen, so haben die Länder diese in ihren Ablösungsgesetzen zu beachten. Weder der Bund noch die Länder können von diesen gesetzgeberischen Aufträgen abweichen. Sie ergeben sich direkt aus dem Grundgesetz. Die Nichtbeachtung dieser Verpflichtungen ist ein Verfassungsbruch durch Unterlassen, der in der Bundesrepublik Deutschland nun schon seit 70 Jahren anhält. Dieser Zustand ist im Blick auf das diesjährige Verfassungsjubiläum unhaltbar und muss beendet werden.

Der Bundesgesetzgeber ist natürlich frei in seiner Entscheidung, wie die Ablösungsgrundsätze aussehen sollen. Forderungen der Kirchen nach milliardenschweren Entschädigungszahlungen infolge der Ablösung sind aber zurückzuweisen. Schließlich sind diese besonderen Staatsleistungen 100 Jahre lang weitergezahlt worden, obwohl seit 1919 dazu ein verfassungsrechtlicher Ablösungsauftrag bestand. Berechnungen zufolge sind allein seit Gründung der Bundesrepublik bis Ende 2018 rund 17 Milliarden Euro solcher besonderen, an sich aber abzulösenden Staatsleistung an die Kirchen geflossen. In der DDR wurden solche Leistungen ebenfalls aus dem Staatshaushalt an die Kirchen gezahlt – hier lag der Betrag von 1949 bis 1989 bei insgesamt 629 Millionen Mark.

Auch das Argument, der Wegfall von jährlich ca. 500 Millionen Euro an Staatsleistungen würde bei den Kirchen zu unübersehbaren Einschränkungen führen, vermag nicht zu überzeugen. Bei einem jährlichen Kirchensteueraufkommen von über 12 Milliarden Euro müsste der Kirchensteuersatz nur um weniger als 0,4 Prozentpunkte angehoben werden, damit der gleiche Betrag, der jetzt noch aus Staatsleistungen kommt und letztlich allen Steuerzahlern aus der Tasche genommen wird, künftig, wie es sich in einem säkularen Staat gehört, ausschließlich durch die Mitglieder der beiden Großkirchen finanziert werden kann. Für Entschädigungszahlungen an die Kirchen besteht deshalb weder ein Anlass noch ein Bedarf.

Das besondere Jubiläumsjahr 2019, in dem wir uns in Dankbarkeit und Freude an die Geschichte von 70 Jahren Grundgesetz erinnern, muss auch Anlass sein, die fortdauernde Missachtung von Verfassungsgeboten zu reflektieren. Das verfassungsrechtliche Gebot zur Ablösung der besonderen Staatsleistungen an die Kirchen muss nach seiner 100 Jahre anhaltenden politischen Ignoranz endlich umgesetzt werden!