Damit es aufhört! Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (nicht nur) in den Kirchen

Eine Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland erleben sexuelle
Gewalt bevor sie 18 Jahre alt sind. Das bedeutet in jeder Schulklasse
sitzen ein bis zwei Betroffene. Eine Zahl, die auf den ersten Blick
überrascht, dann ratlos macht, fassungslos, wütend.

Matthias Katsch, selbst Opfer sexuellem Missbrauchs als Schüler des katholischen Canisius-Kollegs Ende der 70er Jahre in Berlin und 2010 Gründer und Sprecher der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“, hat mit seinem Vortrag zum sexuellen Missbrauch (nicht nur) in den Kirchen auf unserem Bundestreffen in Berlin die Bedeutung und Auswirkungen eines Themas unterstrichen, das in der Öffentlichkeit zwar immer wieder „aufploppt“, aber gerade wenn es um kirchliche Täter geht, weit davon entfernt scheint gänzlich aufgeklärt, juristisch geahndet oder gar gesellschaftlich aufgearbeitet zu werden. Der zweite Skandal, der den Missbrauchsfällen folgt. Bei dem Wort „Aufarbeitung“ denke ich an die NS-Zeit in Deutschland.

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Kirchen und sexueller Missbrauch: „Image-Denken ist tendenziell empathieunfähig“

Eulen-Interview mit Prof. Heiner Keupp, LMU München, Prof. em.

Der langjährige Professor für Sozial- und Gemeindepsychologie an der LMU München, Heiner Keupp, beschäftigte sich schon früh mit Fragen individueller und kollektiver Identitätsbildung. Er prägte Begriffe wie „Patchwork-Identität“ und „Identitätsarbeit“ und Bücher wieIdentitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne“ oder Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel betonen sein Interesse an Bedingungen wie Folgen des Wandels der Verhältnisse von Gesellschaft, Institution und Individuum. Keupp wirkte als Vorsitzender der Berichtskommission des 13. Kinder- und Jugendberichtes der Bundesregierung und an mehreren Studien zum sexuellen Missbrauch an kirchlichen wie staatlichen Einrichtungen mit. Seit 2016 ist er Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.

Professor Keupp, Sie sind Mitglied der unabhängigen und ehrenamtlichen „Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs“. Sehen Sie in der Existenz sowie der Arbeit dieser Kommission einen wichtigen Schritt zur Enttabuisierung von Missbrauchserfahrungen in der Gesellschaft?

In einer Gesellschaft, in der die Skandalisierung zu einem der beliebtesten Volkssportarten geworden ist und Enttabuisierung Normalitätsstatus erlangt hat, wirkt es auf den ersten Blick paradox, dass die gewaltförmigen Grenzverletzungen in – zum Teil prominenten – Institutionen so lange aus den öffentlichen Diskursen ausgeklammert waren. Ahnungen und Vermutungen gab es sicherlich wiederholt, aber sie wurden entweder als Einzelfälle abgetan oder als Angriffe z.B. auf die Institution Kirche oder die Reformpädagogik dargestellt. Betroffene, die heute über ihre Gewalterfahrungen in Internaten zu sprechen beginnen, haben vor allem in den 60er, 70er und 80er Jahren wichtige Jahre ihres Heranwachsens dort verbracht. Dass sie jetzt darüber sprechen können, hat sicherlich mit der Tatsache zu tun, dass sie sich jetzt nicht mehr in den Schweigecontainer aus Tabus und Scham eingesperrt sehen. Aleida Assmann spricht von einem „repressiven“ oder einem „komplizitären Schweigen“, das Täter geschützt und Betroffene in die Isolation traumatisierter Subjekte gedrängt hat. „Kirchen und sexueller Missbrauch: „Image-Denken ist tendenziell empathieunfähig““ weiterlesen