Der Laizismus ist aktueller denn je

Der Laizismus ist aktueller denn je

von Amardeo Sarma

Die heutige Gesellschaft ist mehr fragmentiert und durch mehr unterschiedliche Interessen geprägt als je zuvor. Ein Beispiel dafür ist, wie immer mehr „Mileus“ definiert werden, um die Segmentierung der Gesellschaft zu definieren. Hinzu kommt, dass die eindeutige Bekennung zu einer religiösen, oder auch weltanschaulichen oder politischen „Identität“, abnimmt. Solche ideologischen Präferenzen konkurrieren mit beruflichen, sozialen und sportlichen Zuneigungen und Interessen.

Hierzu hat der Amartya Sen, Träger des Wirtschaftsnobelpreises und Kritiker von Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen, interessante Thesen zur Rolle von Identitäten erarbeitet. In seinem Buch „Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt“ schreibt er, es sei gerade die gegenseitige Neutralisierung verschiedener Identitäten, die Gewalt verhindert und das Zusammenleben fördert. Jeder ist zugleich, sagen wir mal, Jude, ungläubig, Säkularist, Fussballfan, Arzt, heterosexuell, für die Gleichstellung anderer Lebensformen, Rockmusikfan usw. Das Problem entsteht dann, wenn eine dieser Identitäten dominant bzw. allein massgebend wird. Die religiöse Überhöhung führte zu 9/11 und zu Ketzerverfolgung im Mittelalter, die nationale Überhöhung zu Nationalsozialismus.

Zur Fragmentierung: Es wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die Zahl der Mitglieder der evangelischen und katholischen Kirche jeweils unter 30% gesunken ist. Hinzu kommt, dass auch unter diesen nur noch eine Minderheit zentrale Glaubenssätze ihrer Religion teilen. Während lediglich 23% der Mitglieder der evangelischen Kirche von einem persönlichen Gott ausgehen – vom Glaube an das Unmögliche, wie die Jungfrauengeburt und einer leibliche Auferstehung abgesehen – glauben 20% der Mitglieder der evangelischen Kirche weder an die Existenz eines persönlichen Gottes noch an eine abstrakte höhere Macht. Mehr Details sind hier zu finden: fowid

Christ, Jude, Moslem oder Hindu zu sein bedeutet also immer mehr die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft, und immer weniger das Folgen der Regel und Wertevorstellungen einer Religion. Die Menschen lassen sich ihre Regel und Werte nicht mehr von ihren Religionen diktieren. Cem Özdemir wehrt sich zurecht dagegen, dass die vier Millionen Muslimen in Deutschland „jetzt unter die Kategorie Islam gepresst“ werden. Das gleiche könnte man auch für die Christen sagen, die mitnichten auch Christen im Sinne bibelhöriger Christen sind. Überhaupt verliert die religiöse Identität gegenüber anderen an Bedeutung.

Was hierbei zentral ist: Auch die Mitglieder diverser Religionsgemeinschaften bilden ihre Lebensregeln und Wertevorstellungen weitgehend unabhängig von den religiösen Texten. Die meisten Christen kennen ihre „heiligen“ Texte sogar gar nicht. Eine Untersuchung in den USA zeigte, dass es die Atheisten (!) und Juden waren, die die besten Kenntnisse über Religionen hatten:
Es ist sogar gut, wenn Ethik und die Regeln unseres Zusammenlebens autonom und ohne externe, ethische Wertvorstellungen bestimmt werden, was selbstredend auch für nichtreligiöse Ideologien gilt. Die Quintessenz ist klar: Die religiöse Bindung der Menschen an Vorschriften der „heiligen“ Schriften nimmt ab. Das ist gut so und muss sich in der Politik wiederspiegeln.

Warum die Abkehr von den Vorschriften der „heiligen“ Schriften gut ist, zeigt eine Geschichte im Alten Testament – die Grundlage der drei monotheistischen Religionen – über das Zusammenleben verschiedener Gruppen. In Numeri 25 bzw. 4 Mose 25 in der Einheitsübersetzung lesen wir: „Als sich Israel in Schittim aufhielt, begann das Volk mit den Moabiterinnen Unzucht zu treiben. Sie luden das Volk zu den Opferfesten ihrer Götter ein, das Volk aß mit ihnen und fiel vor ihren Göttern nieder. So ließ sich Israel mit Baal-Pegor ein. Da entbrannte der Zorn des Herrn gegen Israel und der Herr sprach zu Mose: Nimm alle Anführer des Volkes und spieße sie für den Herrn im Angesicht der Sonne auf Pfähle, damit sich der glühende Zorn des Herrn von Israel abwendet. Da sagte Mose zu den Richtern Israels: Jeder soll die von seinen Leuten töten, die sich mit Baal-Pegor eingelassen haben. Unter den Israeliten war einer, der zu seinen Brüdern kam und eine Midianiterin mitbrachte, und zwar vor den Augen des Mose und der ganzen Gemeinde der Israeliten, während sie am Eingang des Offenbarungszeltes weinten. Als das der Priester Pinhas, der Sohn Eleasars, des Sohnes Aarons, sah, stand er mitten in der Gemeinde auf, ergriff einen Speer, ging dem Israeliten in den Frauenraum nach und durchbohrte beide, den Israeliten und die Frau, auf ihrem Lager. Danach nahm die Plage, die die Israeliten getroffen hatte, ein Ende. Im Ganzen aber waren vierundzwanzigtausend Menschen an der Plage gestorben. Der Herr sprach zu Mose: Der Priester Pinhas, der Sohn Eleasars, des Sohnes Aarons, hat meinen Zorn von den Israeliten abgewendet dadurch, dass er sich bei ihnen für mich ereiferte. So musste ich die Israeliten nicht in meinem leidenschaftlichen Eifer umbringen.“

Religiöse Texte sind einfach für ein Zusammenleben verschiedener Interessen nicht geeignet, auch wenn es sicherlich auch „gute“ Stellen gibt. Glücklicherweise übernehmen auch die meisten Theisten das Gute anhand ihrer autonom bestimmten Werte und verwerfen das Schlechte. Sie zeichnen sich durch eine selbstbestimmte Ethik aus. Pinhas ist dagegen ein Prototyp der fremdbestimmten 9/11 Attentäter: Pinhas übergeht sogar Mose und die richterliche Ordnung und wird anschliessend für Selbstjustiz gelobt. Soviel zu „Du sollst nicht töten“. Die „heiligen“ Texte beinhalten einfach auch jede Menge Sprengstoff, der zu jeder Zeit zur Zündung bereitsteht. Deshalb müssen wir der Versuchung wiederstehen, diesen Texten eine überhöhte Autorität für unser Handeln zuzusprechen, auch den 10 Geboten nicht.

Religionen trennen die Menschen leider, statt sie zu verbinden, was auch die derzeitigen öffentlichen Debatten zeigen. Auch der konfessionell gebundene Religionsunterricht ist nichts anderes als zeitlich begrenzte Apartheid: Die Menschen werden voneinander getrennt – und dann wundert man sich über Parallelgesellschaften?

Es ist Zeit, das Verbindende zwischen den Menschen in einem offenen, freien und demokratischen Prozess zu suchen. Der Laizismus bietet die Grundlage dafür.