Redebeitrag „Laizismus – Deutschlands Zukunft“

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Nils Opitz-Leifheit:

Statement in Akademie der Evangelischen Kirche Baden in Bad Herrenalb am 24.02.2012 zum Thema: „Laizismus – Deutschlands Zukunft“ im Rahmen der Tagung: „Spirituell? Ja! – Aber wozu Kirche? Konfessionslosigkeit in unserer Gesellschaft“

 

(die tatsächlich gesprochene Rede wich hiervon etwas ab und war etwas kürzer)

Herzlichen Dank für die Einladung nach Bad Herrenalb, der ich gern nachgekommen bin. Ich möchte der evangelischen Kirche zunächst ein Lob ausspreche: Sie geht sehr offen und unverkrampft mit dem für sie schwierigen Thema einer immer stärker säkularisierten Gesellschaft und mit den neuen Weltanschauungen und Strömungen außerhalb der beiden großen Kirchen um. Das ist sicherlich gut für sie selbst, denn es war noch nie erfolgversprechend, den Kopf in den Sand zu stecken, es ist aber für den gesellschaftlichen Diskurs, der im demokratischen Gefüge wichtig ist und für das gedeihliche Miteinander der Menschen im Land, egal welchen Glaubens sie sind, auch einfach eine Wohltat.

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Foto: Stieber, Evang. Akademie Baden

Zu meiner Person nur in aller Kürze: Ich bin Dipl.-Biologe aus Münster in Westf., bin dort in Havixbeck und Münster schon früh politisch aktiv gewesen, zahle nun seit 32 Jahren brav Parteibeiträge an die SPD, in der ich die verschiedensten Funktionen innehatte und lebe heute nach acht Jahren in Dresden seit Anfang 2.000 in Baden-Württemberg bei Stuttgart. Ich arbeite als Parl. Berater für Umwelt-, Energie- und Agrarpolitik, das hat also nichts mit meinen politischen Umtrieben in Sachen Laizismus zu tun. Daneben bin ich seit 27 Jahren in der Arbeiterwohlfahrt sehr aktiv, u.a. Landesvorsitzender in Sachsen gewesen und heute neben anderen Funktionen 2. Vorsitzender der AWO Württemberg.

Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten für die Trennung von Staat und Religion vertrete ich hier als Mitglied des 8-köpfigen Sprecherkreises, der in Berlin auf einem Bundestreffen gewählt wurde. Unsere wachsende Gruppe von SPD-Mitgliedern, die eine stärkere Trennung von Staat und Religion wollen, ist, wenn man so will, eine logische Folge der gesellschaftlichen Veränderungen, die wir in der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten feststellen. Und sie ist eine Antwort darauf, dass bestimmte politische Kreise in den vergangenen Jahren immer stärker SPD und Kirchen zusammengeführt haben und Religion und Politik vermischen wollen.

Wir wollen ein Korrektiv dafür darstellen, dass dies nicht so weitergeht, sondern wieder auf ein gesundes Maß zurückgeführt wird. Auch Konfessionsfreie, Humanisten, Freidenker, Atheisten und Agnostiker sollen sich wieder in dieser Partei wohlfühlen und wiederfinden, was derzeit nicht der Fall ist.

In den meisten anderen Parteien finden übrigens ganz ähnliche Diskussionen und Konflikte statt, aber es steht dem ehrbaren Mütterchen SPD im ihrem zarten Alter von 149 Jahren und angesichts ihrer geschichtlichen Wurzeln gut zu Gesichte, dass dies bei uns schon besonders weit gediehen ist und sich auch schon organisatorisch niederschlägt.

Aber warum das alles?

Wir stellen fest, es gibt zwei Trends, die man in Deutschland seit Jahren beobachten kann, und die sich natürlich auch innerhalb der SPD widerspiegeln. Diese Trends sind gegenläufig und es war deshalb nur eine Zeitfrage, wann es zu solchen Erscheinungen wie unserer Gruppe kommen musste.

Der erste Großtrend betrifft unsere deutsche Gesellschaft insgesamt. Sie hat sich sehr stark verändert, was unsere Weltanschauungen betrifft und eben auch was Kirchenzugehörigkeiten und die Stellung der Kirche in der Gesellschaft angeht. Und nun wissen Sie wahrscheinlich alle ungefähr, was heute anders ist, aber ich will Ihnen doch einige Zahlen und Entwicklungen darstellen, um die Dimension und auch die Perspektive zu verdeutlichen:

Nach dem 2. Weltkrieg und den Gräueln der Naziherrschaft war das Volk im entpolitisierten Nachkriegsdeutschland zumindest auf dem Papier sehr kirchentreu: 95% der Menschen waren konfessionell gebunden und Muslime oder gar Konfessionslose waren keine relevante Größe.

Doch seitdem sind über 60 Jahre vergangen – mehr als zwei Generationen. Der gesellschaftliche Aufbruch der späten 60er Jahre bescherte den Kirchen plötzlich jährliche Austritte in sechsstelliger Zahl, die seitdem ziemlich konstant anhielten und sich zu vielen Millionen aufsummierten.

Dies hatte selbstverständlich damit zu tun, wie die Kirchen gegen Verhütung, neues Scheidungsrecht und die Geleichberechtigung der Frauen kämpften. Mit der Wiedervereinigung kamen 1990 auf einen Schlag 16 Mio. Deutsche hinzu, von denen nur etwa ein Drittel kirchlich gebunden war. Diese Konfessionsfreien sind aber heute auch nur etwa ein Drittel der Konfessionsfreien insgesamt.

Und der Zustrom von Migranten aus der Türkei und vielen anderen Ländern hatte zur Folge, dass heute weitere 5% oder vier Mio. Menschen als muslimisch eingestuft und damit zumindest nicht katholisch oder evangelisch sind. (Sie wissen selbst sicherlich auch, dass nur ein Viertel davon in islamischen Gemeinden angemeldet und entsprechend religiös aktiv ist. Von 4 Mio. Moslems zu sprechen, ist deshalb für Unsinn.

Und mit diesem Wandel nicht genug: Wer einmal aus der Kirche ausgetreten ist, lässt normalerweise auch seine Kinder nicht taufen. Und wer nicht getauft wurde, der hält es meist auch bei seinen Kindern so. Die Kirchenmitglieder überaltern also. Im Gefolge dieser Entwicklung sterben heute jährlich deutlich mehr Protestanten und Katholiken, als zugleich durch Taufen neu hinzukommen. Im Jahr 2008 standen 650.000 Sterbefällen und knapp 300.000 Austritten nur 440.000 Neuaufnahmen und Taufen gegenüber, und das war ein durchschnittliches Jahr. Die beiden Kirchen verlieren also jedes Jahr so viele Mitglieder, wie die SPD oder die CDU Mitglieder haben, eine halbe Million.

Ich will Sie an dieser Stelle auf einen äußerst informativen Gastbeitrag für das Stat. Bundesamt aufmerksam machen, er heißt: Die Entwicklung der Kirchenmitglieder in Deutschland: Joachim Eicken und Dr. Ansgar Schmitz-Veltin haben darin 2010 die Entwicklung der Kirchen in Deutschland untersucht und stellen insbesondere die verschiedenen Gründe für den Rückgang (Demografie und Austritte) sehr klar dar. Im Ergebnis all dessen haben wir es mit heute über 34% Konfessionslosen im Land zu tun, und jeweils etwa 29% Katholiken und Protestanten. Die Entwicklung der letzten zwei Jahre hat dieses Verhältnis noch weiter verschoben, die jüngste Wirkung der Skandale, Missbrauchs- und Misshandlungsfälle ist noch gar nicht erfasst. Sie wissen aber, dass die Austritte in den Jahren 2010 und 2011 dramatisch hoch waren und es gibt Untersuchungen, die sagen, dass auch für 2012 noch keine Entwarnung gegeben werden kann.

Erlauben Sie mir dabei die Bemerkung, dass ich es durchaus auch ungerecht finde, dass sich Verhaltensweisen und Skandale der Katholischen Kirche beim Austrittsverhalten ebenso auf die evangelische Kirche niederschlagen, aber das nur am Rande. Es tritt also täglich etwa ein voll besetzter ICE, d.h. 1.000 Menschen, aus den beiden Kirchen aus.

Hinzu kommt der Schwund aus der Differenz zwischen Sterbenden und Getauften. Aus der Kombination dieser beiden Effekte ergibt sich übrigens automatisch eine Beschleunigung dieses Schrumpfens.

Es ist also eine Frage von Jahren, vielleicht sind es noch 9, vielleicht noch 12 Jahre, dann sind unter 50% der Bevölkerung katholisch oder evangelisch, vielleicht 6 bis 7 % muslimisch und der Rest ist vornehmlich konfessionsfrei, abgesehen von den vielen kleinen religiösen Gruppen, die Sie kennen: 200.000 Buddhisten, 200.000 Hindus, 110 bis 200.000 Juden, je nach Zählweise, und natürlich die verschiedenen christlich orthodoxen Gruppen, die zusammen etwa 1,5 Mio. Menschen umfassen.

Warum ist das wichtig? Und was hat das mit Laizismus zu tun?

Wir halten es für zeitgemäß, dass das Verhältnis von Staat und Weltanschauungen sich auch an der tatsächlichen Wirklichkeit und Vielfalt im Land orientiert. Das Verhältnis Staat – Kirche und das gesamte Geflecht aus Privilegien für und Verzahnungen mit den Kirchen ist das Gleiche geblieben wie vor 60 Jahren.

Ob die Worte zum Tage im Radio, Konkordatslehrstühle an den Universitäten, Alimentierung hoher Geistlicher aus dem Steuertopf, bis hin zur weitgehenden Steuerfreiheit jeglicher kirchlicher Aktivität, alles ist noch so wie 1950. Selbst die längst errungenen selbstverständlichen Rechte der Arbeitnehmer auf Streik und Mitbestimmung und das Grundrecht auf die Art der privaten Lebensführung gelten im Einflussbereich der Kirchen bekanntlich wenig. Die Gesellschaft also mitsamt der Tatsache, dass wir heute ein Teil des politischen Europas sind, hat sich elementar verändert. Und so zahlen heute eben nicht mehr katholische und evangelische Steuerzahler die Zeche für die Religionsgemeinschaften im Land, sondern im hohen Maße auch die Konfessionsfreien, die Moslems und andere. Die Stellung der Kirchen und die Privilegien der beiden großen Religionsgemeinschaften sind dabei trotz riesiger Mitgliederverluste, trotz veränderter Weltanschauungen und Wertevorstellungen der Menschen und trotz einem erheblichen Vertrauensverlust gegenüber den Kirchenführungen starr die gleichen geblieben.

 

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Foto: Stieber, Evang. Akademie Baden

Doch nun kommt ein geradezu absurder Trend hinzu, den wir alle beobachten können. Während die Kirchen schrumpfen, die Mitglieder davonlaufen, die Gesellschaft immer säkularer wird und die religiösen Werte und ihre Vermittler für unsere Lebenswirklichkeit immer mehr an Bedeutung verlieren, versuchen Kirchen und Christen auf der politischen Bühne immer mehr Präsenz und Einfluss zu gewinnen.

So wurde unlängst ein großes Kreuz im Verbraucherministerium aufgehängt. Gegen die Haltung der Beschäftigten übrigens.

Oder unser Sprecher Horst Isola aus Bremen beklagt, dass Herr Börnsen vor jeder Kabinettssitzung demonstrativ öffentlich betet und auch die anderen Kabinettsmitglieder dazu auffordert. Das kannte man bislang eher von der Familie Bush und anderen Hardliner-Republikanern in den USA.

In NRW sprießen neuartige Schulen aus dem Boden, in denen Darwinismus und die heutigen Erdkunde- und Physikkenntnisse als bloße Theorie hingestellt werden, während evangelikale Vorstellungen einer 6.000 Jahre alten biblischen Welt vermittelt werden.

Kurzum, immer weniger Religiöse im Land befeuern immer stärker ihre Einflussnahme auf die Gesellschaft. So, als würden sie immer mehr. Es ist völlig normal, dass dies bei den Nichtgläubigen und Nichtkirchlichen Menschen immer mehr Verwunderung und auch Reaktion hervorruft.

Konfessionsfreie kommen einfach nicht vor, nicht bei Wulff, nicht bei Gabriel, auch nicht bei Frau Merkel. Im, was den Glauben der Bevölkerung anbetrifft, wohl mit christlichsten Land der Welt, in den USA, spricht Präsident Obama in seinen Reden an die Nation auch dezidiert die Konfessionslosen an, der Präsident in Österreich übrigens auch. In Deutschland ist das komischerweise tabu, die 28 Millionen Konfessionsfreien kommen nicht vor, als wären wir noch in der Adenauerära. Eben das wollen wir abstellen.

 

Laizisten wollen, dass der Staat und damit auch seine führenden Repräsentanten eine Äquidistanz zu den Weltanschauungen einnimmt, die im Land eine Rolle spielen. Dass die Konfessionsfreien im Land jünger sind als der Bevölkerungsdurchschnitt, dass sie im Schnitt eine höhere Bildung aufweisen, und dass sie eher städtisch geprägt sind, sollten auch Parteien registrieren, die gewählt werden wollen.

Es nützt nichts, sich weiszumachen, es handele sich um werteloses und desorientiertes Prekariat und um staatlich verordnete Heiden aus der Ex-DDR. Es ist heute ein großer Teil der Mitte unserer Gesellschaft, mein Nachbar, der Zahntechnikermeister mit Frau und Kindern, mein Freund, der Kinderarzt mit Frau und Kindern, mein Bruder, der Polizeibeamte, meine Freundin, die Finanzbeamtin. Ich glaube, die Kirchen selbst wissen das besser als die kirchennahen Politiker.

 

Und an dieser Stelle noch ein Wort zum Laizismus: Dies ist ein schillernder Begriff, der inhaltlich eine so große Bandbreite aufweist, dass man ihn immer konkret untermauern muss, wenn man ihn benutzt.

Die Belgier halten sich für Laizisten, weil sie allen großzügig Subventionen verteilen, das ist immerhin auch eine Äquidistanz. Bei den Franzosen ist es eher so, dass niemand vom Staat privilegiert wird und etwas bekommt. Und die Türkei hat einen eigenartigen Laizismus, der dennoch ein Religionsministerium impliziert, mal ganz davon abgesehen, dass er unter Erdogan sowieso allmählich ausgehöhlt wird.

 

Wir haben deshalb in einem 11-Punkte-Plan mit politischen Forderungen umrissen, was wir mit Laizismus meinen, man kann sie im Internet auf unserer Webpräsenz einsehen. Ich will nur beispielhaft nennen:

Verfassungen, Gesetze und öffentliche Bauten gehören allen Bürgerinnen und Bürgern. Im Grundgesetz der Bundesrepublik und in den Landesverfassungen sowie sämtlichen weiteren Gesetzen haben – analog zu den Lissabonner Verträgen – alle Gottesbezüge zu unterbleiben. Zur Wahrung der weltanschaulichen Neutralität gehören religiöse Symbole nicht in Gerichte, Parlamente, Rathäuser, öffentliche Krankenhäuser, Kindestagesstätten und Schulen sowie Behörden.

Wir fordern (…), dass alle Schülerinnen und Schüler zum Kennenlernen der verschiedenen Kulturen und Religionen sowie zur Einübung der Toleranz unabhängig von ihrer Herkunft und Religionszugehörigkeit einen Unterricht als Pflichtfach über die ethischen Grundlagen des Zusammenlebens, über die Inhalte der großen Religionen und über die weltanschaulichen Grundlagen unserer Kultur, über Menschenwürde und Menschenrechte – wie in Berlin und Brandenburg – erhalten. Bis zu einer entsprechenden Änderung der Verfassungen und Gesetze muss parallel zum konfessionellen Religions- und weltanschaulichen Unterricht auf allen Schulstufen ein gleichwertiger, neutraler Religionskunde- und Ethikunterricht im Sinne eines Wahlpflichtfaches eingerichtet werden. Über die für alle Tendenzbetriebe geltenden Besonderheiten hinaus dürfen die Rechte von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht beschnitten werden. Die Sonderregelungen für religiöse oder weltanschauliche Einrichtungen nach § 78 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz und § 9 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz sind zu beenden. Den Beschäftigten der Kirchen und ihrer Organisationen, vor allem Diakonie und Caritas, sind Mitbestimmung, Koalitionsfreiheit und Tariffreiheit zuzubilligen. Die Religionszugehörigkeit oder das religiöse Verhalten dürfen jenseits eines engen, in herausragender Weise religiös oder weltanschaulich geprägten Kernbereiches von Beschäftigungsverhältnissen kein Einstellungs- oder Entlassungsgrund sein. Diese Forderung gehört auch wieder in unser Grundsatzprogramm.

Daneben gibt es Forderungen nach: – Steuerliche und finanzielle Gleichstellung der Kirchen mit gemeinnützigen Organisationen – Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen – Keine öffentliche Militärseelsorge

Dabei reicht uns eine konsequente Umsetzung des Grundgesetzes und der Europäischen Rechtssprechung schon fast aus, wir sind keine Systemveränderer, sondern vor allem wollen wir erst einmal die Einhaltung dessen, was schon längst im Grundgesetz steht.

So z.B. die Ablösung der seit 1803 festgelegten Staatskirchenleistungen, wie auch die Gleichbehandlung aller Weltanschauungen. Wir wollen die Kirchensteuern z.B. gar nicht abschaffen. Sie würden ganz im Gegenteil sogar steigen, wenn die Kirchen dieses Geld selbst einsammeln müssten und davon künftig auch das Gehalt von Herrn Meisner oder den Betrieb ihrer theologischen Seminare bezahlen müssten. Schon gar nicht wollen wir die Zuschüsse für soziale Arbeit in der Altenhilfe, Jugendarbeit etc. beschneiden, die haben, wie Sie wissen, mit den von uns in Frage gestellten Staatskirchenleistungen nämlich gar nichts zu tun.

 

Mancher empfindet unsere Forderungen als radikal oder irgendwie anstößig. Es ist aber festzustellen: Sämtliche unserer Forderungen, wie wir sie in Berlin als politische Ziele beschlossen haben, – sind entweder auch im Grundgesetz verankert, aber nicht umgesetzt, – oder sie sind bereits in einzelnen Bundesländern Wirklichkeit, wie der Ethik-Unterricht in Berlin und Brandenburg, – oder sie sind in den meisten europäischen Ländern und in der europäischen Rechtsprechung Normalität.

Auch wollen wir die SPD nicht „weltanschaulich einengen“, wie jemand aus der Partei uns vorwarf, sondern die derzeitige unübersehbare Einengung auf christliche Werte und Zusammenarbeit mit den Kirchen durch eine neue breitere Offenheit ersetzen. Wir wollen die SPD nicht, wie derselbe jemand meinte, vor Godesberg zurückwerfen. Es ist völlig anders: Im Unterschied zu dem Genossen, der diese schlaue Bemerkung gemacht hat, haben wir bemerkt, dass Deutschland 2012 nicht das Deutschland von 1956 ist. Damals erfolgte zu Recht die Öffnung der SPD zu den Kirchen, heute muss genauso die große neue Gruppe der Konfessionsfreien endlich registriert und berücksichtigt werden.

 

An dieser Stelle ein Wort zu den Konfessionsfreien und zum Glauben in Deutschland. Das geht ja gern wild durcheinander, aber ich will es hier gern klarstellen, Herr Prof. Winter wird das gewiss bestätigen können: Konfessionsfrei heißt nicht Atheist. Es heißt nicht mal Agnostiker. Es sind darunter feurige fundamentalistische bibeltreue Christen, die sich in den Kirchen nicht mehr heimisch fühlen. Es sind natürlich auch diejenigen darunter, die an Kristalle, Tarot-Karten, Erdgeister, Handaufleger oder anderen Hokuspokus glauben. Ich kenne solchen Aberglauben übrigens auch bei einigen christlichen Bekannten von mir, das schließt sich also offenbar auch nicht gegenseitig aus. Und ebenso sind natürlich auch die Konfessionsgebundenen nicht alle gleichermaßen gläubig, das wissen Sie vielleicht besser als ich: Etwa 9% der Katholiken und 20% der Protestanten schätzen sich als Atheisten ein. Warum sie dennoch Kirchenmitglieder sind, kann viele Gründe haben. Vielleicht finden sie die Kirche trotzdem gut und sinnvoll oder vielleicht können sie sie wegen ihres Arbeitsplatzes oder wegen engherziger Verwandter gar nicht verlassen.

 

Wie viele Menschen n Deutschland als religiös einzustufen sind, darüber gehen die Meinungen und Untersuchungen auseinander. Mir scheint, das liegt am Auftraggeber und an der Fragestellung, mit der man bekanntlich sehr manipulieren kann. So kommt die sehr kirchenfreundliche Bertelsmann-Stiftung zu Werten um die 70% religiöser Menschen, indem sie alle als religiös einstuft, die glauben, dass es da irgendwie noch mehr gibt, als nur das, was man wissenschaftlich beweisen und sehen und fühlen kann. Das das noch lange nicht heißt, dass man auch nur in der Nähe des christlichen Glaubens ist, versteht sich von selbst. Eine andere Untersuchung von 2002 ist interessant: Danach ist die Quote Gottgläubiger (Zustimmung zur Aussage „Es gibt einen persönlichen Gott“) bei 24%, dabei waren 4% der Konfessionslosen gläubig in diesem Sinne.

Die „Atheistenquote“ (Zustimmung zur Aussage „Ich glaube nicht, dass es einen persönlichen Gott, irgendein höheres Wesen oder eine geistige Macht gibt“) lag bei 26%, dabei sind über 20% der Mitglieder der evangelischen Kirche Atheisten und 9% der Mitglieder der Katholischen Kirche.

Der große Rest von etwa 50% stimmen einem der beiden übrigen Thesen zu „Es gibt irgendein höheres Wesen oder eine geistige Macht“ (pantheistisch oder deistisch) und „Ich weiß nicht richtig, was ich glauben soll“ (agnostisch oder habe keine Meinung).

 

Interessant ist aber insbesondere die nächste Frage von 2007: Zur Frage: „Die Menschen prägen unterschiedlich Lebensmodelle und -auffassungen. In wieweit trifft die folgende Lebensauffassung auf Sie persönlich zu: ‚Ich führe ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben frei von Religion und den Glauben an einen Gott, das auf ethischen und moralischen Grundüberzeugen beruht.‘ Trifft diese Lebensauffassung auf Sie persönlich voll und ganz, überwiegend, eher nicht oder überhaupt nicht zu?“. 21% bejahen dies mit „voll und ganz“, weitere 35% mit „überwiegend“. Zustimmend sind also insgesamt 56%.

 

Ein paar Worte zum Abschluss zu unserer Gruppierung und wo sie heute steht. Nach nunmehr gut drei Jahren Vorlauf im Internet und in einem SPD-Forum haben sich etwa 1.100 Unterstützer zu unseren Zielen bekannt, darunter ca. 90% SPD-Mitglieder. Unter den Unterstützern sind eine ganze Reihe Bundestags- und Landtagsabgeordneter, ehemalige wie auch aktive. Es sind zahlreiche Ortsvereins- und Kreisvorsitzende, Jusos, ASF-Frauen, Studenten, Ost- wie Westdeutsche, und selbstverständlich auch eine ganze Reihe Christen, Moslems und Juden sowie einige Buddhisten. In zehn Bundesländern haben sich bereits Landesgruppen mit eigenen Sprechern und Koordinatoren gebildet.

Sie alle eint das Ziel, dass wir uns als SPD für mehr weltanschauliche Neutralität des Staates einsetzen sollten, damit sich in der pluralistischeren Gesellschaft alle besser entfalten können.

Wir sind heute mit einem eigenen unabhängigen Forum im Netz, haben auf facebook eine Gruppe mit weit über 1.000 Mitgliedern, dazu eine Internetpräsenz mit unseren Zielen und Inhalten. Und wir sind zwar im ersten Anlauf nicht von unserem Parteivorstand als offizieller Arbeitskreis anerkannt worden, der Parteiführung wird aber mehr und mehr bewusst, dass sie uns nicht ignorieren und auch nicht wegzaubern kann.

Es gibt deshalb nun erste Signale des Parteivorsitzenden, z.B. einen Arbeitskreis für Konfessionsfreie einzurichten und wir erwarten ein neuerliches Gespräch mit Sigmar Gabriel und Andrea Nahles dazu.

 

Fazit: In dem Programm für dieses Wochenende steht als Titel für mein Statement:„Laizismus – Deutschlands Zukunft“. Das ist so nicht von mir und natürlich ein wenig provokant.

Mit einem nüchtern realistischen Blick auf die von mir genannten Zahlen und Schieflagen sollten sich aber alle darauf einstellen, dass Deutschland nicht kirchlicher wird, sondern säkularer. Es wird nicht christlicher, sondern weltanschaulich pluraler. Das gleiche gilt für Europa insgesamt. Ich würde den Titel deshalb zu der These umformulieren: Unser Staat funktioniert besser und stiftet mehr Zugehörigkeitsgefühl für alle seine Bürger, wenn er die im Grundgesetz verankerte weltanschauliche Neutralität auch ernster nimmt als bislang.

Jetzt aber einen herzlichen Dank für Ihr geduldiges Zuhören. Ich freue mich auf die Diskussion.