Ärztliche Suizidhilfe ermöglichen – Autonomie und Liberalität sichern

Als Referentin für dieses komplexe Thema hatten wir Gita Neumann, die
Bundesbeauftragte für Medizinethik und Autonomie am Lebensende des
Humanistischen Verbandes Deutschland (HVD) und dort langjährige Referentin für Lebenshilfe sowie Leiterin der Zentralstelle Patientenverfügung des HVD Landesverband Berlin-Brandenburg gewinnen können.

Sie gab zunächst einen kurzen historischen Abriss zur Suizidhilfe. Andere europäische Länder haben teils seit langem Regularien gefunden, um Angehörigen und Ärzten im Interesse von unheilbar leidenden Schwerkranken rechtliche Sicherheit zu geben, wenn sie diesen helfen wollen, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden. In Deutschland gab es dagegen bis 2015 überhaupt keine rechtliche Regelung der Hilfe zur Selbsttötung. Wie ein Verbot wirkte allerdings die Verdammung des ehemals sogenannten „Selbstmords“ und ein sehr starkes Tabu. Dieses hatte sich allerdings zu Beginn des 21.Jahrhunderts zunehmend gelockert.

Aufgrund dessen beschloss der Bundestag Ende 2015 ein “Verbot der
geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“, welches nicht nur für
Suizidhilfevereine, sondern auch für Ärzte galt. Dieser Strafrechtsparagrafen §217 wurde spektakulär im Februar 2020 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) für nichtig erklärt.

Nach dem Urteil unserer höchsten Richter umfasst das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in Art. 1 Abs.2 des Grundgesetzes nämlich auch das
Recht des Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden und hierbei die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. Und dieses Recht auf Autonomie gilt nunmehr zur allgemeinen Überraschung nicht nur für Schwerkranke ohne Heilungschancen (wie in anderen europäischen Ländern), sondern für alle erwachsenen Personen, sofern ihre Freiwillensfähigkeit und eigene Tatherrschaft nicht in Frage stehen.

Durch die ersatzlose Aufhebung des § 217 StGB und weil seit den 1 1/2 Jahren nach der Urteilsverkündung die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen in Schockstarre über diese vermeintlich verabsolutierte Säkularität des BVerfG-Urteil verfallen sind, besteht zum Thema Suizidhilfe hierzulande ein Freiraum ohne gesetzliche Regularien. Diese wären etwa zur Klarstellung für Ärzte notwendig, welche verpflichtenden Sorgfaltskriterien zum Schutz vor Nichtfreiwillensfähigkeit von Suizidwilligen jetzt einzuhalten wären, sowie zur Freigabe von bisher laut Betäubungsmittenrecht nicht verschreibbaren Mitteln zur Selbsttötung.

Inzwischen gibt es einerseits von einigen Abgeordneten (der zukünftigen Ampel- Koalition) Entwürfe für ein Sondergesetz zur Suizidhilfe und andererseits vom bisherigen Bundesgesundheitsminister zusammen mit Union-MdBs (etwa dem religionspolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Lars Castelucci) ein Arbeits- und Eckpunktepapier für einen erneuten § 217 im Strafrecht. Die Unionsinitiative will das prinzipielle Verbot der Suizidhilfe wieder einführen – nunmehr angeblich verfassungskonform. Die unausweichliche Anpassung an das BVerfG-Urteil soll darin
bestehen, Ausnahmen von der Strafbarkeit mit aufzunehmen – und zwar so restriktiv wie eben möglich. Die illiberale Leitidee ist dabei stark von der Haltung der Kirchen geprägt, dass jeder Suizid verwerflich und sündhaft sei. Eine Neuregelung im Strafrecht ist aus sozialdemokratischer Sicht entschieden abzulehnen. Die Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokratischen Juristen (ASJ) hat eine ausführliche Stellungnahme dazu erstellt, wobei sie den parteiübergreifenden liberalen Gegenentwurf der Abgeordneten Helling-Plahr, Lauterbach, Sitte, Schulz und Fricke favorisiert.

Auf der Grundlage dieser Stellungnahme hat unsere Referentin Gita Neumann im Einzelnen erläutert, weshalb auch sie den letztgenannten Entwurf eines Sondergesetzes für unterstützenswert hält. Denn er will die generelle Inanspruchnahmen und Zulässigkeit der Hilfe zur Selbsttötung im Sinne des BVerfG etablieren. Dieser liberale Gesetzentwurf sieht die Sicherstellung eines ausreichenden pluralen Angebots an wohnortnahen, erforderlichenfalls aufsuchenden Beratungsstellen vor. Diese sollen unentgeltliche Gespräche und Informationen für Menschen mit latentem, zukünftigem oder akutem Sterbewunsch ergebnisoffen anbieten. Dabei sind die Klienten umfassend auch über ihnen vielleicht unbekannte Alternativmöglichkeiten aufzuklären, um eine Selbsttötung gegebenenfalls zu überdenken oder auch zu verwerfen.

Dieser Ansatz unter Einbeziehung der Verhütung von Suizidversuchen ohne jede Entmündigung ist vorbehaltlos zu begrüßen. Allerdings wären im Detail noch Verbesserungsvorschläge umzusetzen, so vor allem statt standardisierter Zeitvorgaben eine individuelle Anpassung von Fristen zwischen ergebnisoffener Beratung, selbstbestimmter Entscheidung und ärztlicher Verschreibung von Medikamenten zur Selbsttötung. Es müssen Fortbildungsangebote für behandelnde Ärzte auf dem Gebiet der Suizidassistenz eingeführt werden. Daneben muss Sterbehilfeorganisationen die Hilfe zur Selbsttötung weiterhin für ihre Mitglieder gegen Honorierung möglich bleiben.

Zudem sollte auch Patienten, die noch nicht volljährig sind, in diesem Fall unter Voraussetzung eines tödlich verlaufenden Leidens eine humane Möglichkeit zur ärztlichen Sterbehilfe offen stehen. Die ausführliche Stellungnahme, die fast einstimmig und ohne Gegenstimme angenommen wurde, ist als Anlage beigefügt.

Dr. Uli Bieler